Gruppenbildung – Konfliktaustragung – Integrationsstrategien: Neue Perspektiven der Zunftforschung

Gruppenbildung – Konfliktaustragung – Integrationsstrategien: Neue Perspektiven der Zunftforschung

Organisatoren
SFB 485 „Norm und Symbol. Die kulturelle Dimension sozialer und politischer Integration“; in Zusammenarbeit mit der Universität Mannheim
Ort
Konstanz
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.06.2008 - 14.06.2008
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Von
Marion Beck, Fachbereich Geschichte und Soziologie, Universität Konstanz; Philip R. Hoffmann-Rehnitz, SFB/ KFK 485 "Norm und Symbol" Universität Konstanz

Die Zünfte sind in den letzten Jahren von der deutschen Geschichtswissenschaft wieder neu entdeckt worden, nachdem bereits in anderen europäischen Ländern seit längerem eine Renaissance der Zunftforschung stattgefunden hatte. Perspektiven dieser „neuen Zunftforschung“ zusammenzuführen und einen Austausch der Ergebnisse aktueller Forschungsprojekte zum Thema Zünfte zu ermöglichen, war das zentrale Anliegen einer Tagung, die vom 12. bis 14. Juni in Konstanz stattfand und die vom dortigen SFB 485 „Norm und Symbol“ in Zusammenarbeit mit der Universität Mannheim ausgerichtet wurde.
In ihrer Einleitung skizzierten die Tagungsorganisatoren SABINE VON HEUSINGER (Mannheim) und PHILIP HOFFMANN-REHNITZ (Konstanz) Tendenzen der aktuellen Zunftforschung sowie die konzeptionellen und inhaltlichen Schwerpunkte der Tagung. Sie konstatierten, dass es in Deutschland zwar mittlerweile wieder eine größere Anzahl an Forschungs-, zumal Dissertationsprojekten zu den vormodernen Zünften gebe, dass es aber bislang an Versuchen fehle, die neuen Arbeiten und Ansätze zusammenzuführen und so die Zunftgeschichte als innovatives Forschungsfeld zu profilieren. Hierzu einen Beitrag zu leisten, war, so die Tagungsorganisatoren, ebenso ein wichtiges Ziel der Veranstaltung wie der Versuch, die immer noch häufig anzutreffende Trennung zwischen Mittelalter und Frühen Neuzeit zu überbrücken. Zudem sei bei der Konzeptionalisierung der Tagung angestrebt worden, die Frage nach neuen Perspektiven der Zunftgeschichte in einem breiteren europäischen Kontext zu diskutieren. Ein wichtiges Kennzeichen der neueren Zunftforschung zumal in Deutschland sahen Hoffman-Rehnitz und von Heusinger in der hervorgehobenen Bedeutung, die neueren kulturgeschichtlichen Ansätzen und Fragestellungen zukommt. Dabei würde jedoch eine einseitige Konzentration auf kulturgeschichtliche Aspekte dem multidimensionalen Charakter der Zünfte wie auch der Vielfältigkeit der neueren Forschung nicht gerecht werden. Gerade in der Verbindung kulturgeschichtlicher mit sozial-, wirtschafts- und politikgeschichtlichen Ansätzen besteht, so von Heusinger und Hoffmann-Rehnitz, das besondere Potential der Zunftgeschichte. So habe sich die neuere Forschung insbesondere mit der Haltung der Zünfte gegenüber (technischen) Innovationen, ihrem Verhältnis zu Märkten oder ihrer politischen Rolle etwa bei der Vermittlung und Umsetzung obrigkeitlicher Verordnungen auseinandergesetzt. Dabei sei die bislang noch vernachlässigte Kommunikation innerhalb der Zünfte und deren medialen Bedingungen verstärkt in den Blick zu nehmen. Gerade der Frage, inwieweit Zünfte einen Raum darstellten, in dem Konflikte ausgetragen werden konnten, komme eine besondere Virulenz zu, gerade angesichts des von der neueren Forschung immer wieder herausgearbeiteten Problems, dass die sozialen und ökonomischen Unterschiede und damit verbunden die Interessendivergenzen zwischen den Zunftmitgliedern teilweise beträchtlich waren, woraus sich desintegrative Potentiale ergaben.

Die beiden Vorträge von MARKUS BRÜHLMEIER (Zürich) und Sabine von Heusinger setzten sich mit der grundlegenden Frage auseinander, was eine Zunft ist und was als solche verstanden werden kann. Dabei wurde Zunft sowohl als zeitgenössischer Begriff wie auch als Kategorie der Forschung behandelt. Am Beispiel Zürichs im Spätmittelalter plädierte Brühlmeier dafür, zwischen Handwerk und Zunft klar zu differenzieren, auch wenn sich in Zürich diese Unterscheidung erst um 1500 voll etablieret habe. Dies sei der Endpunkt einer langfristigen Entwicklung gewesen, in deren Verlauf sich die mittelalterlichen Zünfte von einer genossenschaftlichen Interessensvertretung einzelner Handwerke hin zu politischen Körperschaften transformierten, die die gesamte städtische Bevölkerung und damit auch Personen, die keine Handwerker waren, erfassten. Während die Zünfte, so Brühlmeier, eine heterogene Mitgliederstruktur besaßen und ihnen gewisse Kontrollfunktionen gegenüber den Handwerken zukamen, waren letztere hingegen sozial homogener und spielten eine wesentliche Rolle bei der Regulierung alltäglicher Handwerksangelegenheiten.

Sabine von Heusinger entwickelte in ihrem Vortrag eine Taxonomie mittelalterlicher Zünfte anhand der Beispiele Zürich und Straßburg, wo sich in fast idealtypischer Form das gesamte Spektrum des Phänomens Zunft erfassen lässt. Von Heusinger unterschied dabei jeweils vier grundlegende Aspekte (gewerbliche Zunft, Bruderschaft, Trinkstube, militärische Einheit) und vier Funktionen (berufständische Vertretung, religiös-karitative Aufgaben, politische Partizipation, Verteidigung und Sicherheit), die oftmals, jedoch nicht immer miteinander korrelierten. Dabei hob sie den flexiblen und dynamischen Charakter der Zünfte hervor, der mit dem breiten Spektrum an unterschiedlichen Funktionen und Aufgaben verbunden war, die sich in Zünften bündeln oder auch zur Ausdifferenzierung verschiedener, nebeneinander existierender Formen von Gruppenbildung führen konnte. Dabei sei gerade für den Fall des spätmittelalterlichen Straßburgs die große Anzahl an Gewerbetreibenden bemerkenswert, die keiner Zunft oder aber einer Zunft angehörten, die dem von ihnen ausgeübten Gewerbe eigentlich nicht entsprach; insofern zeige sich, dass der viel beschworene Zunftzwang vielfach eine Fiktion gewesen sei.

In seinem vergleichend angelegten Vortrag zeigte MAX GLOOR (Heidelberg) am Beispiel von Augsburg und Straßburg auf, zu welch divergenten Ausformungen das Wechselspiel von Stadtherren, Patriziat und Zünften trotz ähnlicher Voraussetzungen im Laufe des Mittelalters führen konnte. In Straßburg etablierte sich im Mittelalter neben dem ritterlichen Patriziat („patriciat noble“) eine bürgerliche Führungsschicht, das „patriciat bourgeoise“. Um ihren politischen Einfluss zu steigern, gingen diese beiden, in ihren Interessen oft konkurrierenden Gruppierungen Koalitionen mit Zünften ein, wobei Gloor hier zwischen armen und reichen Zünften unterschied. In Augsburg lässt sich nach Gloor dagegen keine Differenzierung des Patriziats nachweisen; somit habe auch die Möglichkeit zur flexiblen Koalitionsbildung vergleichbar denjenigen in Straßburg gefehlt. Den Augsburger Handwerkervereinigungen sei denn auch, anders als in Straßburg, eine direkte, stadtrechtlich verankerte politische Partizipation verwehrt geblieben.

Auch MONIQUE DEBUS-KEHR (Straßburg) thematisierte in ihrem Vortrag die Zünfte im Hinblick auf ihre sozialen und politischen Beziehungen zu anderen städtischen Akteuren und Gruppen, in diesem Fall zu den Handwerksknechten, und zwar am Beispiel des Oberrheins im 15. Jahrhundert. Grundsätzlich sah sie das Verhältnis zwischen Zünften und Knechten bzw. Gesellen als eines an, das stark hierarchisch und durch klare Über- und Unterordnungsverhältnisse geprägt war. Die Macht der Zünfte basierte, so Debus-Kehr, maßgeblich auf den verschiedenen Handwerks- und Zunftordnungen, die die Handlungsfreiheit der Knechte beschränkten und nicht zuletzt auf die Kontrolle der Gesellenbruderschaften abzielten. Aber auch der Umstand, dass die Bestimmungen gerade über die Zulassung zur Meisterschaft zunehmend restriktiver geworden seien, habe Widerstand von Seiten der Knechte provoziert, wobei gerade deren Bruderschaften eine wichtige Rolle gespielt hätten. Aus diesem Grunde erschienen die Handwerksknechte nach Debus-Kehr in der Sicht der Zünfte wie der Obrigkeit als eine die städtische Ordnung potentiell gefährdende Gruppe, gegen die man dann auch vorzugehen suchte.

Eng mit der Frage nach dem Verhältnis von Zünften, Gesellen und städtischen Obrigkeiten hängt das Problem der „unfree labour“ zusammen, also der Ausübung von Handwerksarbeiten außerhalb des Zunftsystems, dem sich BERT DE MUNCK (Antwerpen) zuwandte. Er plädierte dafür, sich von einfachen Dichotomien wie der zwischen Norm und Realität oder zwischen legaler und illegaler Arbeit (respektive zwischen „free“ und „unfree labour“) ebenso zu verabschieden wie von der vereinfachenden Annahme, die Zünfte seien generell bestrebt gewesen, außerzünftische Handwerker und deren Produkte zu bekämpfen und auszugrenzen; vielmehr verfolgten die Zünfte, so de Munck, oftmals Strategien der wirtschaftlichen Integration – oder doch zumindest der Kontrolle – von „unfree labour“. Am Beispiel von Antwerpen zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert führte er aus, dass es eine klare Unterscheidung zwischen „free“ und „unfree journeymen“ keineswegs bei allen Zünften gegeben habe. Ebenso habe die Existenz von komplexen Systemen des „sub-contracting“ gerade zwischen Händlern und Handwerkern es schwierig gemacht, zwischen legalen und illegalen Arbeitsverhältnissen zu unterscheiden.

Dass Zünfte in wichtigen wirtschaftlichen Transformationsprozessen der Frühen Neuzeit keineswegs nur eine abwehrende, sondern vielfach eine aktive Rolle spielten, machten die beiden Vorträge von DANIELLE VAN DEN HEUVEL (Cambridge) und ULRICH PFISTER (Münster) deutlich. Van den Heuvel wandte sich dabei der Kommerzialisierung und der Ausbildung einer „comsumer society“ im 17. und 18. Jahrhundert in den Niederlanden zu und fragte im speziellen danach, welche Bedeutung den Zünften im Bereich des Einzelhandels („retail guilds“) hierbei zukam. Sie konzentrierte sich auf Praktiken des Ausschlusses und der Diskriminierung bestimmter Bevölkerungsschichten, insbesondere von Frauen und (weiblichen) Migranten, sowie auf die zumeist indirekten Formen der Kontrolle des Einzelhandelssektors. Dabei führte van den Heuvel unter anderem die Zunftmitgliedschaftsbeiträge an, die von den Zünften durchaus flexibel und ihren Interessen entsprechend eingesetzt worden seien, nicht zuletzt um unerwünschte Personen auszuschließen, aber etwa auch um Zunftmitglieder in Notzeiten zu unterstützen und diesen einen Vorteil zu verschaffen, indem man ihnen deren Entrichtung erließ.

Die Bedeutung, die den Zünften für die Durchsetzung bzw. Verhinderung von technologischen Innovationen zukam, thematisierte Ulrich Pfister. Dabei hob er hervor, dass die Existenz von Zünften vor allem aufgrund des mit ihnen verbundenen Systems der Weitergabe von (technischen) Fähigkeiten eine wesentliche Voraussetzung für die Ausbildung und rasche Verbreitung bzw. Adaption von technischen Innovationen bildete. Dabei sei die Übernahme einer neuen Technologie aber nur eine von mehreren Optionen gewesen; Pfister nannte außerdem das industrielle Upgrading, d. h. die Umorganisation der Güterproduktion mit dem Ziel, die Wertschöpfung zu erhöhen, die Änderung des Arbeitsregimes und die Marksegmentierung. Welche Option gewählt wurde, hing dabei, so Pfister, vornehmlich von drei Faktoren ab: der Verschiebung von Faktorproportionen (v. a. der Relation von Arbeit und Kapital), der inneren Schichtung der Zünfte und dem politik-ökonomischen Umfeld. Am Beispiel der Bandmühle als einer der wenigen arbeitsparenden technischen Innovationen der Frühen Neuzeit zeigte Pfister auf der Grundlage dieses Modells die verschiedenen Reaktionsweisen in unterschiedlichen Teilen Europas (u. a. in London, Basel und Augsburg) auf.

Mit den Beiträgen von ANKE SCZESNY (Augsburg) und ANDREAS ÖNNERFORS (Sheffield) wurde der Blick über die „klassischen“ städtischen Zünfte hinaus erweitert. Sczesny wandte sich den lange Zeit vernachlässigten Landzünften zu, speziell den Weberzünften Ostschwabens im 17. und 18. Jahrhundert. Neben Entstehung und Verbreitung sowie den innerzünftischen Strukturen ging Sczesny auf deren korporatives Selbstverständnis ein. So habe es innerhalb ihres jeweiligen dörflichen Umfelds zwar vielfältige Verflechtungen gegeben, etwa bei der Besetzung von Gemeindeämtern, die Separations- und Distinktionstendenzen hätten jedoch überwogen. Die Grundlage hierfür, so Sczesny, war einerseits, dass das Handwerk oftmals als durchaus einträglicher und relativ sicher geltender Hauptverdienst diente und dass andererseits die Landhandwerker innerhalb der ländlichen Gesellschaft ein relativ hohes Sozialprestige erwerben konnten. Dies wiederum habe auf der Ausbildung eines eigenen Selbstverständnisses unter den Landhandwerkern basiert, das durch die Existenz von Zünften ermöglicht worden sei.

Die Freimaurer standen im Mittelpunkt des Vortrags von Andreas Önnerfors, genauer: die Frage nach dem Verhältnis zwischen Handwerkerzünften und Freimaurerlogen. Dabei konzentrierte sich Önnerfors auf die innere Ordnung und die „associational patterns“ als auch auf die kulturell-symbolischen Praktiken (z. B. Rituale). Gegenüber der verbreiteten Auffassung, die die Unterschiede zwischen „traditionellen“ Zünften und den Freimaurergesellschaften als einem Prototypus „moderner“ Assoziationen betont, hob Önnerfors die engen Verbindungen und zahlreichen Übereinstimmungen hervor; besonders ausgeprägt sei dabei der Rückgriff der Freimaurergesellschaften auf Symbole und historisch-mythologische Erzählungen des aus dem Mittelalter überkommenen Freimaurerhandwerks gewesen. Historisch lassen sich, so Önnerfors, diese durchaus bemerkenswerten Verbindungen mit der Entstehungsgeschichte der Freimaurergesellschaften in Großbritannien erklären, sind sie doch im 17. Jahrhundert aus der Öffnung der Freimaurerzünfte gegenüber finanzkräftigen Nicht-Handwerkern, v. a. Gentlemen, entstanden, was eine Reaktion auf finanzielle Schwierigkeiten, mit denen die Freimaurerzünfte konfrontiert waren, bildete. Mit dieser Öffnung habe sich dann im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts sukzessive auch eine Transformation der inneren Ordnung der Zünfte gemäß den Ideen der Aufklärung vollzogen.

Die beiden Vorträge von MICHAEL HECHT (Münster) und PATRICK SCHMIDT (Gießen) wandten sich dem Tagungsthema aus einer kulturgeschichtlichen Perspektive zu. In beiden Vorträgen stand die Frage nach Mechanismen und kulturellen Grundlagen zünftischer Identitätsbildung und Integration im Zentrum. In seinem vergleichend angelegten Vortrag, der pfännerschaftliche Korporationen in Lüneburg, Halle und Werl zwischen 1450 und 1750 untersuchte, machte Hecht deutlich, wie breit gefächert die jeweiligen Formen der institutionell-korporativen Ordnungsbildung und die Praktiken der Integration und Distinktion sein konnten, obwohl (oder gerade weil) diesen Korporationen gemeinsam war, dass ihnen eine hervorgehobene Position innerhalb ihrer jeweiligen Stadtgesellschaften zukam. Ausgehend von dem Konzept der Institution als symbolischer Ordnung (Rehberg) unterschied Hecht drei performative und symbolische Handlungen, in denen und durch die soziale Ordnung hervorgebracht wird: erstens Formen der Traditionsbildung und der Erinnerungskultur, zweitens Inklusionspraktiken und Initiationsrituale sowie drittens und damit zusammenhängend Zulassungskonflikte. Während sich die Lüneburger Korporation erfolgreich gegen Versuche der Landesherrschaft, Einfluss gerade auf die Aufnahme von neuen Mitgliedern zu nehmen, habe wehren können, so habe in Halle die pfännerschaftliche Korporation ihre Autonomie sukzessive an den Landesherrn verloren, wobei dies von jener aber begrüßt worden sei, da in der engen Bindung an den Landesherrn ein besonderes distinktives Potential gelegen habe; dagegen war im Falle Werls aufgrund der geburtsständischen Orientierung die Aufnahme vor allem an die Abstammung gekoppelt, so Hecht.

„Erinnerungskultur“ und „kollektives Gedächtnis“ sind, so Patrick Schmidt, Schlüsselkonzepte der aktuellen kulturwissenschaftlichen Forschung, denen auch für die Analyse zünftischer Identitäts- und Gruppenbildung ein paradigmatischer Charakter zuzumessen ist. Dabei konzentrierte sich Schmidt in seinem Vortrag am Beispiel von Frankfurt, Köln, Straßburg und Nürnberg auf die plurimedialen Praktiken der Zünfte, ihr Selbstverständnis und – im doppelten Wortsinn – ihre Geschichtsbilder in den (städtischen) Öffentlichkeiten zu verankern und zur Geltung zu bringen. Schmidt betonte, dass die Ausbildung zünftischer Gruppensolidarität durch soziale und kulturelle Praktiken wie etwa kommemorative Handlungen oder mythische Gründungserzählungen erzeugt wurde. Dabei sei es nicht zuletzt auch um die Legitimation und Perpetuierung innerzünftischer Hierarchien und Herrschaftsverhältnisse gegangen. Als Beispiel führte Schmidt Stiftungen an: diese sah er in Anlehnung an Michael Borgolte als Versuch derjenigen Zunftmitglieder an, die eine hervorgehobene, mächtige Position innerhalb der Zünfte einnahmen, Gehorsam über ihren Tod hinaus zu finden.

Dass Zünfte keineswegs ein rein europäisches Phänomen waren, dass es vielmehr vergleichbare Phänomene auch in anderen Regionen der Welt, insbesondere in Asien, gegeben hat und demnach die Zunftgeschichte ein bislang noch kaum wahrgenommenes Potential zur globalgeschichtlichen Erweiterung besitzt, machte der Abendvortrag von MAARTEN PRAK (Utrecht) deutlich. Im Zentrum seines Vortrags standen Formen des Wissens innerhalb der mittelalterlichen Bauindustrie und die Art und Weise, wie dieses entwickelt, umgeformt, angewandt und vermittelt wurde, und zwar im Besonderen bei der Errichtung von religiösen Gebäuden bzw. im europäischen Fall von Kathedralen als den „Megastructures of the Middle Ages“. Das Wissen insbesondere der Steinmetze, gerade auch das abstrakt-mathematische, war dabei nach Prak modular, praxisbezogen und experimentell, es beruhte auf Empirie und Erfahrung und wurde über mündliche Medien und innerhalb eines korporativen Kontextes angewandt und vermittelt. Gerade auch angesichts der hohen Mobilität und der überregional hoch ausdifferenzierten Struktur der mittelalterlichen Bauindustrie in (West-)Europa war es, so Prak, von entscheidender Bedeutung, dass das für die Durchführung solcher Bauprojekte notwendige „tacit knowledge“ kollektiv geteilt und über rein familiäre Zusammenhänge hinaus vermittelt wurde; um dies sicherzustellen, sei die Existenz eines institutionellen Rahmens notwendig gewesen. Im Fall des mittelalterlichen Europas sei den Zünften hierbei eine zentrale Rolle zugekommen. Aber auch im Fall von Byzanz und China hätten Zünfte trotz ihrer im Vergleich zu Europa unterschiedlichen Organisation und gesellschaftlichen Stellung ähnliche Funktionen übernommen.

Die Tagung machte das breite Spektrum an Themen und Ansätzen der aktuellen Zunftforschung deutlich. Angesichts dieser Vielfalt lässt sich von der neuen Zunftgeschichte auch kaum sprechen. Vielmehr erscheinen die Zünfte als ein Bereich, in dem sich ganz unterschiedliche Perspektiven der historischen Forschung kreuzen. Die sich daraus ergebende Spannung schlug sich auch während der Tagung insofern nieder, als in kontroverser Weise etwa das Verhältnis von Wirtschaft und Kultur, von sozio-ökonomischen Strukturen und Dynamiken einerseits, kulturell-symbolischen Praxen und Formen der Identitätskonstruktion andererseits diskutiert wurde, ohne dass es jedoch zu der oftmals zu beobachtenden Abgrenzung zwischen einer „neuen“, kulturgeschichtlich orientierten Zunftgeschichte und angeblich „älteren“ Ansätzen, seien sie nun sozial- und wirtschaftsgeschichtlicher oder politikgeschichtlicher Provenienz, kam. Vielmehr, so Ulrich Pfister, komme es gerade für die Zunftgeschichte darauf an, wirtschaftliche Handlungsräume kulturhistorisch aufzuschließen, um so ökonomisches Handeln erst verstehen und die diesem Handeln zugrundeliegenden, oftmals paradoxen Strukturen nachvollziehen zu können. Zudem, und darauf wies Maarten Prak in der Schlussdiskussion hin, stehe die Zunftgeschichte vor einer doppelten Herausforderung: Angesichts der differenzierten Ergebnisse der neueren Forschung, die die Vielfalt der möglichen Ausprägungen von Zunft deutlich mache, seien Generalisierungen nur um den Preis möglich, dass die damit formulierten Erkenntnisse kaum noch einen Aussagewert besäßen. Eine Beschränkung auf die empirische Einzelforschung sei aber letztlich auch nicht befriedigend. Notwendig, so Prak, erscheinen daher Modelle, die bestimmte soziale Funktionen und Leistungen in den Blick nehmen, für die die Existenz von Zünften eine, historisch bedingte Antwort sein konnten, die es dann mit anderen möglichen Formen – systemtheoretisch ließe sich auch von funktionalen Äquivalenten sprechen – zu vergleichen gilt. Darüber hinaus stehe die Forschung bei der Frage, wie Zunft als wissenschaftliche Beobachtungskategorie und als Untersuchungsgegenstand gefasst werden könne, vor grundsätzlichen Problemen, zumal der Rekurs auf die historischen Diskurse hier nur bedingt weiterhelfe, da die Beschreibungen der Zeitgenossen darüber, was denn eine Zunft sei, in hohem Maße „messy“ gewesen seien. Insofern bleibt als wichtige Aufgabe der Zunftgeschichte, in der Konfrontation von aktueller wissenschaftlicher Kategorienbildung und Theoriediskussion mit zeitgenössischen Beschreibungen einen heuristischen Rahmen zu entwerfen, der es sowohl ermöglicht, aktuelle Forschungsergebnisse in systematischer und komparativer Weise zu bündeln und miteinander in Beziehung zu setzen als auch Anstöße für weitere innovative Forschungen zu liefern.
Die Publikation der Vorträge in einem Sammelband ist geplant.

Konferenzübersicht:

SABINE VON HEUSINGER (Mannheim) / PHILIP HOFFMANN-REHNITZ (Konstanz): Begrüßung und Einführung
MARKUS BRÜHLMEIER (Zürich): Das Verhältnis zwischen Handwerk und Zunft seit dem Mittelalter am Beispiel Zürich
MAX GLOOR (Heidelberg): Zünfte, Patriziat und Bischof im spätmittelalterlichen Augsburg und Straßburg - ein Werkstattbericht
MONIQUE DEBUS-KEHR (Straßburg): Zünfte und Handwerksknechte: ein von Unterordnung und Auflehnung gekennzeichnetes Verhältnis. Oberrhein, 15. Jahrhundert
BERT DE MUNCK (Antwerpen): Including outsiders. The problem of unfree labour in Antwerp, 15th-18th century
DANIELLE VAN DEN HEUVEL (Cambridge): Commercialization and institutional forces. Retail guilds and the rise of the Consumer Society
ULRICH PFISTER (Münster): Zünfte und technologischer Wandel in der Frühen Neuzeit
ANKE SCZESNY (Augsburg) Binnenstruktur und Selbstverständnis der ländlichen Weberzünfte Ostschwabens im 17. und 18. Jahrhundert
ANDREAS ÖNNERFORS (Sheffield): From Stone Masons to Gentleman Masons: Changing Associational Patterns of Freemasonry in Early Modern Urban Space
HARALD DERSCHKA (Konstanz)/ SABINE VON HEUSINGER (Mannheim): Konstanzer Zunftgeschichte – ein wissenschaftlicher Stadtrundgang
MAARTEN PRAK (Utrecht): Mega Structures of the Middle Ages: Guilds and the Construction of Religious Buildings in Europe and Asia, c.1000-1500
MICHAEL HECHT (Münster): Gruppenbildung im Zeichen des „weißen Goldes“. Praktiken der Integration und Distinktion in den pfännerschaftlichen Korporationen in Lüneburg, Halle und Werl (1450-1750)
PATRICK SCHMIDT (Gießen): Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Ein kulturgeschichtliches Paradigma als Schlüssel zu den Prozessen zünftischer Identitätskonstitution und zur Erschließung bislang vernachlässigter Quellengattungen
SABINE VON HEUSINGER (Mannheim): Was ist eine Zunft? Methodische Überlegungen an den Beispielen Straßburg und Zürich


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